Reproduzieren.

Dies befriedigte OX ebenfalls nicht. Ein Muster mußte weder sterben noch sich reproduzieren. Warum sollte es ein Flecken tun?

Dec strahlte eine komplexe Anordnung von Signalen ab. OX justierte seine Kreise, um das ganze Spektrum aufzunehmen. Dec war zu viel größerer Kommunikation fähig als die beiden anderen, denn er verwandte Licht, die schnellste aller Strahlungen. OX konnte sie durch die Wirkung auf seine Elemente wahrnehmen: kurz, aber definitiv. Er hatte seit langem sein Wahrnehmungsvermögen solcher Variationen intensiviert, so daß Beobachtungen, die einst jenseits seiner Möglichkeiten lagen, jetzt reine Routine waren. Jetzt aktivierte er ein wirklich ausgeklügeltes Wahrnehmungsnetz, viel aufnahmefähiger, sensitiver und empfindlicher als je zuvor.

Dann kam auf dem Weg der Übermittlung Decs ganzes Bewußtsein zu ihm herüber, so deutlich, als ob es ein Schwall von Musterstrahlungsablegern wäre:

(TOD) (SPOREN) (VERSCHMELZUNG) (REPRODUKTION)

Ox assimilierte es und stellte wegen der einzelnen Aspekte des Konzepts Rückfragen. Der Dialog war komplex, angefüllt von Schleifen von Subdefinitionen und Kommentaren, die sich aus Randgebieten der Hauptthemen ergaben, und mit Feedbacks und Interaktionen zwischen den Konzepten, sowohl offensichtlichen als auch subtilen. Es erforderte die Aufrechterhaltung eines Kreises, der größer war als sein übriges Volumen. OX blieb bei ihm und widmete ihm soviel Aufmerksamkeit, wie nötig war. Er verfeinerte seine Kreise, fügte ihnen etwas hinzu, revidierte sie.

Und fand sich im Bewußtsein Decs wieder.

Nun spürte er die Kraft der Gravitation, eine vitale Komponente von Decs Fortbewegung, den Druck der Atmosphäre, ein weiteres wesentliches Merkmal, den Aufprall physischen Lichts auf seinem Auge. Er spürte die Muskulatur des einen Fußes, der sich dem fortwährenden Ziehen und dem Ungleichgewicht entgegenstemmte.

Diese Dinge waren für ihn bisher bloße Konzepte gewesen, beschrieben zwar, aber nicht wirklich verstanden. Es war eine Sache, zu wissen, daß der physische Körper Gewicht besaß, das ihn auf dem Boden festhielt, aber es war eine ganz andere, diese allgegenwärtige Kraft in jeder einzelnen Zelle des Körpers zu spüren. Ein Faktor, der für OX in seiner natürlichen Form keinerlei Bedeutung hatte, war für dieses physische Geschöpf eine Angelegenheit von Leben und Tod. Ein Sturz konnte Decs Existenz tatsächlich ein Ende setzen! Daher standen Gravitation und Überleben auf der gleichen Stufe. Und doch war die Gravitation nur eine aus einen ganzen Komplex physikalischer Kräfte. Kein Wunder, daß die Flecken ganz anders reagierten als OX. Ihr Überleben hing davon ab!

Und er verstand die Bedeutungsgleichheit von Tod und Reproduktion, verstand, wie sich der vorbereitete Körper in seine einzelnen Zellen auflöste, die zu schwebenden Sporen wurden und mit den Sporen einer anderen hingeschiedenen Pilzeinheit verschmolzen und dann zu neuen Einheiten heranwuchsen. Ohne den Tod gab es keine Neubildungen, und ohne Neubildungen würde es keine Einheiten dieses Typs mehr geben. Und doch war dieser Prozeß für die Evolution der Spezies notwendig, denn ohne Evolution würde sie ebenfalls dahinscheiden. Der Tod stand mit dem Überleben auf einer Stufe - Tod des Individuums, Überleben der Spezies - , weil sich die Bedingungen der physischen Umwelt ständig veränderten. OX begriff jetzt die wesentliche Natur dieser Dinge - und ihre Richtigkeit. Vielfältige physische Imperative stellten phantastische Anforderungen und machten komplexe Überlebensinstrumente nötig, die Mustereinheiten unbekannt waren.

Dann löste er sich vom Physischen und war wieder in seinem eigenen Element, fibrillierend. Niemals zuvor hatte er Empfindungen und Denkvorgänge dieser Art kennengelernt. Es galt, eine phänomenale Anzahl von Daten zu assimilieren und Kreise zu modifizieren. Das Physische war eine ganz separate Existenzform mit ureigenen, einzigartigen Imperativen!

DX hatte bei diesem Zusammentreffen mehr gelernt als bei jedem vorangegangenen. Er wurde sich jetzt bis in sein tiefstes Inneres klar darüber, daß die intellektuelle Ordnung der Flecken genauso komplex und bedeutsam war wie seine eigene. Die Flecken waren wirklich vollständige Einheiten.

Er modifizierte seine Kreise, um eine dauerhafte Bewußtheit und Beachtung dieser Tatsache zu integrieren. So wie die Alterkeit unendlich variabel war, so war es auch der Intellekt! Sein Verständnis von der Existenz wurde nicht vollständig sein, bevor er das innere Wesen jedes einzelnen Fleckens kennengelernt hatte - und das einer Maschine.

Er formte einen Ableger, um sich Ornet zu nähern. Durch Bewegungen und Blitze, die mit der Kommunikationsweise der Kreatur in Einklang standen, gab OX seine Mission bekannt: Bewußtseinstausch für einen Augenblick. Ornet war dafür sehr empfänglich. Das innere Wesen von Mustern hatte ihn, auf paleontologische Weise, schon lange interessiert, da es in seinem Gedächtnis so wenig Platz einnahm.

Die Technik des Austauschs unterschied sich von der, die sich bei Dec als so effektiv erwiesen hatte, denn das Werkzeug gebündelten Lichts stand nicht zur Verfü- gung. Statt dessen mußte OX einen Ablegerkreis schaffen, der alle erkennbaren Merkmale und Funktionen des Vogels duplizierte und den er nach Ornets Weisungen korrigierte. OX verwandelte sich in einen anderen Ornet mit Füßen, Klauen, Flügeln und Schnabel, der der Gravitation und all den anderen Manifestationen des physischen Daseins unterworfen war.

Dann bewegte sich diese Form, um Deckungsgleichheit mit Ornets Präsenz zu erreichen, und die Punkte des Ablegers nahmen die Signale des funktionierenden Körpers, der Belebtheit seiner Zellen, auf.

Langsam schritt der Angleichungsprozeß fort und verschmolz das Elementmuster mit dem physischen Muster. Und als die Überlappung ausreichend wurde, begann OX Ornets Empfindungen und Gedanken unmittelbar zu empfangen.

Ornet war alt. Seine Spezies war normalerweise im dritten Jahr nach dem Schlüpfen erwachsen und schied nach zwanzig dahin. Ornet war jetzt zwanzig. Seine Kräfte gingen zurück, das Gefieder verlor seinen Glanz, der Schnabel seine Schärfe. Er empfand eine Art Vakuum in seinem Leben, aber er war nicht in der Lage gewesen, es zu definieren, bis OX ihn wegen Bab befragt hatte. Da waren seine Erinnerungen geweckt worden und hatten es ihm klargemacht - aber viel zu spät. Er hatte niemals Kontakt mit einem weiblichen Exemplar seiner Art gehabt, war niemals erregt worden - und so hatte er gelebt, ohne es wirklich zu vermissen. Er war nicht zu spekulativen Gedankengängen oder emotionalen Reaktionen geschaffen. Er akzeptierte das, was war, und arbeitete lediglich darauf hin, Überleben und Behaglichkeit zu verbessern.

Dieses Persönlichkeitsbild, auf seine Weise ganz anders als das Decs, paßte zu OX' eigener Beschaffenheit. Aber da Ornets Reproduktionsaspekt stillag, hatte OX noch immer keine direkte Vorstellung davon. Und solange sein Verständnis unvollständig war, fehlte ihm ein potentielles Überlebenswerkzeug.

Es war eindeutig, daß Ornet nicht sterben mußte, um seine Art zu reproduzieren. Aber wenn die Tod/Reproduktion-Beziehung nicht gültig war, was war es dann?

OX beendete die Verbindung und zog den Ableger aus der Deckungsgleichheit mit dem Körper des Vogels zurück. Der Lenkung durch die minutiösen elektrischen Stimuli des physischen Nervensystems beraubt, brachen die Subkreise zusammen. Es war ein Nichtüberlebensschock - allerdings nur für den Ableger. In wenigen Augenblicken reorganisierte OX sich selbst in stabilerer Form und gewann sein Gleichgewicht zurück.

Er hatte ein weiteres großes Teilgebiet der Realität in sich aufgenommen und verstand nun in gewissem Rahmen den Prozeß des Alterns und dessen Beziehung zum Tod. Aber das war noch nicht genug.

Jetzt kam er zu Bab. Bab stand gegenwärtig, wenn die Schätzung von Ornets Gedächtnis zugrunde gelegt wurde in der Blüte seines Lebens. Und er verfügte, wie OX selbst wußte, über eine hervorragende und vielseitige Denktechnik. Er war die Ursprungsquelle von OX' Verwirrung. Jetzt würde er vielleicht Ordnung in diese Verwirrung bringen.

OX baute einen weiteren Verbindungsableger auf, diesmal in der Form von Bab. Obgleich klein und kompakt, war dieser einzelne Ableger nichtsdestoweniger weitaus komplexer, als es OX' gesamtes Wesen zum Zeitpunkt seiner ersten Bewußtseinswerdung gewesen war.

Ich möchte mich mit dir verbinden, um dich vollständig zu verstehen, signalisierte der Ableger.

Mach, was du willst, gab Bab gleichgültig zurück.

OX stimmte seine Subkreise auf die Nervenimpulse lebender Materie ab, wie er es gerade erst so erfolgreich bei Ornet getan hatte. Er ließ den Ableger zur Verschmelzung hinübergleiten.

Es bedurfte einer Periode der Anpassung, denn obwohl das Funktionsprinzip bei Ornet und Bab ähnlich war, gab es im Detail doch Unterschiede. Dann fokussierte sich die Bewußtheit.

Es war ein Mahlstrom. Rationale Zweifel lagen im Widerstreit mit unerfüllbaren Trieben. Das Bild eines nackten weiblichen Exemplars der Bab-Spezies formte sich, Arme und Beine ausgestreckt. in einer Aura des Widerwillens ausgelöscht. aufs neue geformt.

OX beobachtete, fühlte, erlebte. Jetzt spürte auch er diese verblüffenden Triebe. Das Anziehende/Abstoßende des Reproduktion/Tod-Komplexes, die Notwendigkeit des Eroberns, des Anfassens, des Um- armens, des Penetrierens - blockiert von Unfähigkeit, Verwirrung und Schuld. Begierde ohne Gelegenheit, Kraft ohne Technik. Ein Drang, der so groß war, daß er das Überleben selbst annullierte. Emotion.

OX wand sich mit solcher Anstrengung aus der Deckungsgleichheit, daß er die gesamte Enklave in ein anderes Gefüge versetzte. Seine Struktur befand sich in schrecklicher Unordnung; seine Kreise kämpften gegeneinander.

Aber jetzt verstand er die Notwendigkeit der Flecken, ihre Art zu reproduzieren. Er wußte, was Emotion war. Und da er sie einmal entdeckt hatte, war er unfähig, sie wieder aus seiner Struktur zu verbannen. Die tiefgreifenden neuen Kreise waren Teil seines Musters.

OX begriff jedoch, daß sein Überblick noch immer unvollständig war. Er hatte wunderbare und entsetzliche neue Dinge kennengelernt, aber dies steigerte nur die Notwendigkeit, auch noch den Rest kennenzulernen.

Vielleicht blieb nur noch wenig von Bedeutung übrig, und es gab bei Fortsetzung der Suche auch Aspekte des Nichtüberlebens - dennoch, er mußte es tun. Überleben und Emotion trieben ihn dazu.

Er suchte Mech auf, die wilde Maschine.

OX erwartete Widerstand, aber Mech war friedfertig. Vielleicht wollte er sich zunächst über die Natur dieser neuen Attacke klar werden. OX formte ein Ablegerbildnis von der Maschine und strebte vorsichtig die Deckungsgleichheit an.

Es war gefährlich, weil die Maschine, anders als die lebenden Flecken, gewisse Musteraspekte besaß. Sie war sich der Elemente bewußt, obgleich ihre Existenz nicht von ihnen abhing, aber sie konnte sie benutzen, um jene speziellen Muster zu bilden, die sich über die Gefüge erstreckten. Diese Fähigkeit war sehr begrenzt, aber sie war einer der Gründe, aus denen OX solche Schwierigkeiten hatte, Mechs Attacken erfolgreich zu begegnen. Mech kam OX' Manövrierfähigkeit beim Überschreiten der Gefüge sehr nahe, vorausgesetzt die Reise beschränkte sich auf benachbarte oder fast benachbarte Gefüge. Und die Maschine konnte den Elementen soviel Energie rauben, daß sie für einige Zeit einer Mustereinheit nicht zur Verfügung standen.

OX fand die Nervenkreise auf der physischen Ebene der Maschine und paßte sich ihnen an, so wie er es bei Ornet und Bab getan hatte. Und langsam wurde er Mech.

Der Intellekt der Maschine unterschied sich von dem der lebenden Flecken. Im Gegensatz zu den subtilen Interaktionen bei Leben und Muster liefen ihre Impulse mit erschreckender Kraft über Metallleitungen und hatten zu tun mit Motoren und Transformatoren, mit Schaltern und starken chemischen Reaktionen. Und doch war sie intelligent.

Dies war Mech - und nun verstand OX. Die Maschine hatte Notwendigkeiten, die genauso zwingend waren wie die der anderen Einheiten. Ihr Hauptmotiv war ähnlich dem ihren: ÜBERLEBEN. Aber sie brauchte Energie, die mittels weitaus rauherer Prozesse aus Materie transformiert wurde. Die meisten der physischen Substanzen konnte sie aus der Umgebung beziehen, aber einige wenige waren hier in der Enklave auf kritische Weise knapp.

Es war der Mangel an diesen Substanzen, der Mech verzweifelt und gefährlich machte. Die Maschine benötigte sie, um ihr Potential zur Reproduktion ihrer Art zu entwickeln - und einige von ihnen konnten aus den Körpern der lebenden Flecken herausgefiltert werden. Es gab keine inhärente persönliche Feindseligkeit. Mech attackierte, weil er von einer Notwendigkeit getrieben wurde, die sich nicht unterdrücken ließ, weitgehend so, wie es bei Babs Notwendigkeit der Fall war. Allmählich, als ihm klar wurde, daß die Flecken tatsächlich intelligent waren, kam er dazu, ihre Vernichtung auf längere Sicht mit Nichtüberleben gleichzusetzen, und versuchte dem Trieb, sich das zu nehmen, was sich in seiner Reichweite befand, zu widerstehen. Aber er konnte es nicht. Versorgte man Mech mit diesen Substanzen, dann würde er nicht länger ein Feind sein. Die Maschine mochte sogar mit den anderen Mitgliedern der Enklave zusammenarbeiten. Ihre Stärke auf physischer Ebene war dergestalt, daß sie für sie von wesentlicher Hilfe sein würde - insbesondere bei dem Bemühen, aus der Enklave auszubrechen.

OX hatte Kampfkreise aufgebaut, um dem feindlichen Verhalten der Außenmuster Widerstand entgegenzusetzen. Jetzt begriff er, daß Muster für solche Aktivitäten schlecht gerüstet waren. Ihr intellektuelles Begriffsvermögen ließ sich nur schwer in Aktion übertragen. Dies war einer der Gründe, aus denen sich die Außenmuster nach Errichtung der Enklave ausschließlich auf die Beobachtung beschränkt hatten.

Im Gegensatz dazu waren Maschinen Einheiten der Aktion. Mechs Bewußtsein enthielt pragmatische Instruktionen, um viele Dinge zuwege zu bringen, vorausgesetzt, die Mittel standen zur Verfügung. OX erkannte jetzt, daß er als Muster über Mittel verfügte, die die Maschine nicht hatte.

Jetzt verstand OX genug und hatte einen neuen Motivationssinn. Er bereitete sich zum Handeln vor.